Siegfried Böhm

Siegfried Böhm

Eine ärmliche Gegend ist das Erzgebirge gewesen, seit es im späten Mittelalter besiedelt worden war. Zwar brachte der namensgebende Bergbau immer wieder einmal Phasen großer Prosperität mit sich, wenn durch das Aufspüren neuer Lagerstätten oder einer verbesserten Fördertechnik Silber, Blei, Zinn und andere wertvolle Rohstoffe zutage geholt werden konnten. Aber so rasch der Wohlstand kam, so unvermittelt verging er oft auch wieder. Die kargen Böden und die langen, schneereichen Winter taten ihr Übriges und formten eine bescheidene, an Entbehrungen gewöhnte Bevölkerung. Ein halbes Jahrtausend lang.

Zschopau 1913

Erst eine neue Epoche, die wir heute als Industrielle Revolution bezeichnen, veränderte diese Situation nachhaltig. Dabei ist die Gegend um Zschopau mit ihren seit dem frühen 18. Jhd. nachweisbaren protoindustriellen Strukturen im Bereich der Textilbleicherei und der Strumpfwirkerei ein Hort der Industrialisierung auf dem europäischen Festland. Vor ziemlich genau 200 Jahren entstanden hier erste Fabriken moderner Form, namentlich jene des Johan Jacob Bodemer, die nicht nur das wirtschaftliche Gepräge der Stadt Zschopau und ihrer umliegenden Orte veränderten, sondern auch die Lebenswelt der hiesigen Bevölkerung. Mechanik, durch Fremdkraft angetriebene Maschinen, Dampf, Transmissionen, Gasmotoren und dergleichen gehörten nun zum Alltag und die Menschen lernten sie zu beherrschen und zu verbessern. Der Däne Jørgen S. Rasmussen brachte Zschopau vor dem Ersten Weltkrieg ein zweites Standbein und am Ende der 20er Jahre beherbergte die Kleinstadt die größte Motorradfabrik der Welt.

Siegfried Böhm im hohen Alter. Quelle: MDR

In diese Zeit hinein wurde am 18. Juli 1921 Siegfried Böhm geboren – im nahegelegenen Witzschdorf. Er besuchte später die Oberschule in Zschopau, mußte diese aber aufgrund der wirtschaftlichen Not seiner Eltern 1936 verlassen. Statt in Zschopau in der Textilindustrie zu arbeiten oder bei DKW ging er nach Dresden, wo er erst in einer Kartonagenfabrik Beschäftigung fand, um dann ab Mai 1939 in die Zeiss Ikon AG überzuwechseln. Siegfried Böhm sollte in diesem Tätigkeitsfeld des Kamerabaus seine Lebensaufgabe finden. Nach schwerer Verwundung im Kriege, konnte er 1943 zu Zeiss Ikon zurückkehren und erwarb sich unter Friedrich Schieber wertvolle Erfahrungen bei der Konstruktion von Schlitzverschlüssen – ein Metier, in dem Böhm zehn Jahre später zu den bedeutendsten Fachleuten der Welt gehören sollte.


Noch nicht einmal 25 Jahre alt und dennoch bereits ein ausgewiesener Spezialist – das mag einer der Hauptgründe dafür gewesen sein, daß die Sowjetische Besatzungsmacht Böhm im Januar 1946 in die Kamera-Werkstätten Niedersedlitz beorderte, um dort die Fertigung der Praktiflex wieder zum Anlauf zu bringen. Die angestammte Belegschaft war versprengt: an der Front gefallen, bei den Bombenangriffen wenige Monate zuvor ums Leben gekommen oder einfach bereits in die Westzonen abgewandert. Unter unsäglichen Bedingungen und großen persönlichen Entbehrungen gelang es Böhm, die Herstellung dieser begehrten Kamera in geordnete Bahnen zu lenken und für das nötige Qualitätsniveau zu sorgen. Aber damit nicht genug. Bereits nach kurzer Zeit hatte Böhm die eklatanten Schwächen der vorliegenden Konstruktion erkannt und setzte alles daran, die Kamera zu verbessern und weiterzuentwickeln. Es entstand die legendäre Praktica. Als wäre diese Konstruktionstätigkeit noch nicht genug Belastung gewesen, hatte Böhm gleichsam noch die stete Versorgung mit dem Materialnachschub sowie die Überzeugungsarbeit gegenüber der Besatzungsmacht zu lösen. Eine herausragende Einzelleistung im Wiederaufbau nach 1945.

Praktica Biotar

Ab 1948 offizieller Werkleiter des VEB Kamera-Werke Niedersedlitz, leitete Böhm einen Aufstieg dieses aus einer Kameramanufaktur hervorgegangenen Betriebes ein, der seinesgleichen suchen sollte. Nicht nur, daß die zur Praktica weiterentwickelte Praktiflex auf eine großserielle Produktionsweise getrimmt werden konnte, die erstmals einer breiten Masse an Amateurphotographen ermöglichte, eine universelle Kleinbildspiegelreflexkamera zu erwerben. Darüber hinaus arbeitete Böhm mit einem Stab an ausgewählten Fachleuten an einer Perfektionierung dieses Kameratyps, um dessen bisherige Schwächen endgültig zu eliminieren. Seine dahingehenden Lösungsansätze, insbesondere die Vollautomatische Springblende und ihre Verknüpfung mit der Kameramechanik, hatten grundlegenden Charakter und wurden später quasi von allen Herstellern des Weltmarktes adaptiert. Die aus diesen Arbeiten hervorgegangene Praktisix und ihre Nachkommen, die etwa vier Jahrzehnte lang gefertigt wurden, gehören damit zu den erfolgreichsten Kameraschöpfungen im sogenannten Mittelformat.

Siegfried Böhm (Mitte) mit der neuen Praktina im Jahre 1953. Links sein Werkstattleiter Werner Kühnel, rechts der Konstrukteur Gerhard Jehmlich. Bildautor: Höhne/Pohl, Deutsche Fotothek.

Man muß Böhm also nicht nur außergewöhnliche Leistungen als Konstrukteur zuschreiben, sondern offenbar auch als fähiger Leiter seines Betriebes. Anders ist es nicht zu erklären, daß mit dem erschütternden Niedergang des Goliath Zeiss Ikon der David in Niedersedlitz ab 1957 zum Leitbetrieb der ganzen Branche aufsteigt und regelrecht die Scherben des vormaligen Konkurrenzbetriebes zusammenkehren muß. Aus dieser kritischen Phase geht ab 1959 ein Großbetrieb "VEB Kamera- und Kinowerke" (später kurz "Pentacon") hervor, in dem Böhm ab 1961 als Technischer Direktor fungiert. Zu seinen großen Verdiensten jener Zeit gehört die Einführung der rationellen Massenfertigung der Spiegelreflexkameras am Fließband ab 1965, die er maßgeblich mit vorbeireitet und umgesetzt hat. Die folgenden zehn Jahre bis etwa 1975 stellen die letzte große Zeit der Blüte des Dresdner Kamerabaus dar, in der man durch technische Weiterentwicklung und richtige Modellpolitik brilliert.

Praktina System

Das unter der Leitung Siegfried Böhms geschaffene Praktina-Aufbausystem mit seinen Motorantrieben und dem Langfilmmagazin eröffnete der Photographie unter anderem auf den Gebieten der Wissenschaft und Forschung neue Möglichkeiten. Die in Niedersedlitz gefundenen neuartigen Lösungsansätze wurden dabei späterhin oft von namhaften Firmen kopiert und nicht selten auch als eigene Errungenschaften ausgegeben.

Ein drastischer Umbruch im Markt der Amateurspiegelreflexkameras ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hin zur elektronischen Belichtungssteuerung (Canon AE-1, Pentax ME, Minolta XD-7, usw.) bachte den VEB Pentacon Dresden jedoch binnen kurzer Frist in einen ernstzunehmenden technologischen Rückstand, der bei Fachleuten wie Böhm damals größte Besorgnis hervorrief. Auch der Import des Elektroniksystems für die neue Praktica B200 brachte Ende der 70er Jahre nur zweitweilige Entschärfung, da die weitere Zusammenarbeit mit japanischen Technologiefirmen von oben her unterbunden wurde. Nachdem Böhm diese Situation und deren bald zu erwartende Folgen den politischen Funktionären mit ehrlichen Worten deutlich gemacht hatte, wurde er 1981 mit 60 Jahren kurzerhand aus seiner Funktion verdrängt und auf einen niederen Posten regelrecht kaltgestellt. Die sich in den Folgejahren immer deutlicher abzeichnende ausweglose Situation des Dresdner Kamerabaus, die durch einen von Jahr zu Jahr immer größer werdenden Abstand zu den japanischen Konkurrenzfirmen gekennzeichnet war, wurde plötzlich für alle sichtbar, als noch kurz vor der Wiedervereinigung wegen hoffnungsloser Prognosen die Liquidation des VEB Pentacon Dresden verkündet werden mußte.


Siegfried Böhm, der im Jahre 2016 kurz nach seinem 95. Geburtstag verstarb, blieb bis ins hohe Alter als Experte und wichtiger Zeitzeuge zum Dresdner Kamerabau aktiv und geschätzt.




Literatur: Jehmlich, Gerhard: Praktica-Konstrukteur Böhm in Dresden gestorben, Dresdner Neueste Nachrichten vom 25. August 2016.

Marco Kröger


letzte Änderung 9. März 2024