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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Certo-phot und Certina
Diese beiden Geräte waren in der DDR der 1960er Jahre der letzte Versuch, die Bauart der Boxkamera am Leben zu halten
Die CERTO-phot
Denn ehrlich gesagt war die große Zeit dieser Boxkameras schon während der 1950er Jahre sukzessive zuendegegangen. Das lag einerseits darin, daß das Kleibildformat immer größere Marktanteile gewonnen hatte, während der Rollfilm im gleichem Maße seine jahrzehntealte Stellung als typisches Amateurmaterial einbüßte und er seltsamerweise eine regelrechte Wiedergeburt im professionellen Bereich erlebte. Zweitens war der Markt in den 50er Jahren bereits mit einfachen Rollfilm-Tubuskameras aus Bakelit regelrecht überschwemmt worden. Der Bedarf hielt wohl nur deshalb an, weil man für wenige Mark Kindern und Heranwachsenden einen billigen Einstieg in die Photographie ermöglichen konnte und weil das harte und recht spröde Material zudem leicht zerbrach, wenn beispielsweise eine Pouva Start versehentlich auf den Boden gefallen war.
Im Certo-Kamerwerk sah man in der Zeit um 1960 offenbar eine Marktlücke darin, das Grundprinzip der einfachen Boxkamera mit jener hochwertigen Bauweise zu verknüpfen, wie sie im Zuge der Kleinbildkameras in die Kamerafertigung Einzug gehalten hatte. Damit sollte wohl die einfache Anwendung als Knipskamera mit einem wertigeren, seriöseren Äußeren verknüpft werden. Statt aus dünnem Stahlblech oder Bakelit bestand das Kameragehäuse der neuen Certo-phot aus Aluminium-Spritzguß mit Deck- und Zierkappen aus Aluformblech. Der mechanische Aufwand beim Verschluß lag allerdings ganz und gar auf dem üblichen Box-Niveau: Im Gegensatz zur Perfekta II gab es wieder nur eine Momentbelichtungszeit von etwa einer 1/60 Sekunde. Einzig die Möglichkeit der Certo-phot bzw. der späteren Certina, die Entfernung einstellen zu können, ist als erwähnenswerter Fortschritt zu zählen. Das war eigentlich bei Boxkameras bislang nicht üblich. Außerdem hatte sich mittlerweile selbst bei dieser einfachen Kameragattung eine Doppelbelichtungssperre zum Standard etabliert. Nur die Pouva Start hatte bis zum Schluß keine.
Charakteristisch: Die gewölbe Bildbühne und die zugehörige Andruckplatte.
Und seit mit dem Agfacolor Ultra 17/10° DIN der Farbnegativfilm genau so empfindlich geworden war, wie der Isopan F Standard-Schwarzweißfilm, lag es durchaus im Bereich des Machbaren, mit diesen einfachen Kameras auch Farbaufnahmen zu wagen. Wie bei den Perfektas wurden daher ein auf Farbfehler korrigierter Achromat verbaut. Weil sich aber bei einem solchen Kittglied mit Hinterblende – zumal bei einer derartig beachtlichen Öffnung von 1:8 – eine ausgeprägte Bildwölbung bemerkbar macht, wurde diesem Problem bei der Certo-phot mit einer durchbogenen Filmbahn begegnet. Für eine Kamera, die ziemlich genau so viel kostete, wie zwei Langspielplatten, ermöglichte diese Maßnahme schon beachtlich gute Aufnahmen.
Hier sind einmal die typischen Bildfehlerkurven des in den beiden Perfektas, der Certo-phot und der Certina eingesetzten Objektivtyps Achromat denjenigen des Periskops der Pouva Start gegenübergestellt (nach Naumann). Solcherlei "Objektive" für Billigkameras sind natürlich in jeglicher Hinsicht ein Kompromiß. Man sieht beispielsweise, daß die sphärische Aberration (Kurve jeweils rechts unter dem Linsenschnitt) bei beiden Typen mit größer werdender Einfallshöhe des Lichtes geradezu verheerende Ausmaße annimmt. Lichtstärken über 1:11 sind mit solchen Zweilinsern generell nur mit starken Zugeständnissen an die Abbildungsgüte erzielbar.
Das Periskop hat als symmetrisch aufgebautes Objektiv den Vorteil, daß Astigmatismus und Wölbung (Koordinatensystem links unterhalb des Linsenschnittes) vergleichsweise moderat ausfallen. Zumindest sind die durch diesen Abbildungsfehler hervorgerufenen Unschärfen am Bildrand nicht erheblicher, als die durch sphärische und chromatische Aberrationen bedingten Unschärfen, die ohnehin auch die Bildmitte weich machen. Dadurch kann der nutzbare Bildwinkel des Periskops auch etwas größer gewählt werden. Ein klassischer Achromat, wie er Beispielsweise fast 100 Jahre lang als sogenannte Landschaftslinse verwendet wurde, hatte demgegenüber nicht nur einen geradezu verheerenden Astigmatismus, sondern tangentiale und sagittale Bildschale liefen zu allem Übel auch noch stark in gegengesetzte Richtungen davon. Bei Goerz wurde aber nach dem Ersten Weltkrieg ein Achromat namens "Frontar" entwickelt, bei dem die miteinander verkittete Sammel- und Zerstreuungslinse zusammen die Form eines Meniskus ergaben. Bei einer solchen meniskenförmigen Sammellinse, bei der also beide Außenflächen in dieselbe Richtung gewölbt sind, lassen sich die sagittale und die tangentiale Bildschale einigermaßen zusammenlegen, sodaß das Ausmaß des Astigmatismus recht gut im Zaume gehalten werden kann. Leider sind beide Bildschalen dann aber nach wie vor gewölbt. Eine Bildfeldebnung ist bei einem verkitteten Achromaten leider nicht möglich. Deshalb ging man bei Certo den Weg, mit einer entsprechend gekrümmten Bildbahn den Film einigermaßen in jene Ebene zu zwingen, auf die sich die größte Schärfe erstreckt.
Der große Vorteil des Achromaten - und das geht aus diesen Kurven leider nicht hervor - liegt natürlich darin, daß die Abbildung achromatisiert werden kann. Das heißt selbst bei Aufnahmen auf Colorfilm ergeben sich kaum lästige Farbsäume um die Konturen der abgebildeten Objekte herum. Trotz dieser Fortschritte beim Achromat wurde dieser nicht umfangreicher eingesetzt, denn mit einer einzigen weiteren Linse ließ sich bereits ein Cook'sches Triplet aufbauen, mit dem schließlich alle Bildfehler samt Astigmatismus und Wölbung vollständig behebbar waren. Mit der zunehmenden Verbreitung des Kleinbildes, das stets stark nachvergrößert werden muß, ging die Verwendung einfacher Achromate daher stark zurück.
Für eine Boxkamera war die Certo-phot außergewöhnlich materialaufwendig gebaut. Insbesondere frühe Modelle machten einen sehr hochwertigen Eindruck. Hier waren der Auslöser und der Filmtransportknopf gar noch aus verchromtem Messing gefertigt. Später wurde beim Transportknopf auf Plastwerkstoff umgestellt und auf einen Indikator für die Auslösesperre verzichtet. Auch eine Vereinfachung des Verschlusses ist feststellbar. An der massiven Ausführung der Kamera mit viel Metall änderte dies aber prinzipiell nichts [Bilder: Benjamin Kotter].
Sehr seltener Einblick in das kleinste der Dresdner Kamerawerke aus dem Jahre 1959, als offenbar gerade erst die Fertigung der Certo-phot angelaufen war. Auf dem Bild oben ist der technische Leiter Armin von der Gönna zu sehen. Aufgenommen von Heinz Woost, Deutsche Fotothek, Datensätze 71814258ff.
Man darf an dieser Stelle nicht verschweigen, daß diese erfolgreiche Boxkamera Certo-Phot damals durchaus die Funktion eines Rettungsankers für die Firma Certo hatte. Bis zu ihrem Erscheinen hatte man lediglich zwei hochwertige Sucherkameras im Angebot: Einmal die mittlerweile veraltete Super-Dollina für das Kleinbildformat und zum zweiten die hochwertige, aber auch sehr kostspielige Certo-Six für das Format 6x6. Auf welchen tönernen Füßen solch ein Kleinunternehmen in der DDR stand, zeigte sich im Frühjahr 1960, als durch die behördlich angeordnete Preissenkung der EVP der Certo-Six soweit herabgedrückt wurde, daß offenbar die Fertigung umgehend eingestellt werden mußte.
Die Zeit um 1958/59 war eine sehr bewegte für das Certo-Kamerawerk in Dresden. Erst war Vater Fritz von der Gönna gestorben, der das Unternehmen über viele Jahrzehnte geführt hatte, und anschließend waren die beiden Erben Armin und Eckart von der Gönna eine staatliche Beteiligung eingegangen, um einerseits in die Firma investieren zu können und sicherlich auch um Ruhe vor der gegenüber Privatunternehmern oft feindlichen Haltung der Partei zu erlangen. Und wie man sieht, schien diese Strategie zunächst von vollem Erfolg gekrönt gewesen zu sein. Die neue Kommanditgesellschaft Certo wurde in den Medien als regelrechtes Paradebeispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit eines sozialistischen Privatunternehmers mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat und seiner führenden Partei hingestellt. Doch dieser Erfolg war absolut trügerisch. Schon die vollautomatische Kleinbildkamera Certi, die sich gerade in der Entwicklung befand, als dieser Artikel in der Berliner "Neuen Zeit" am 8. Januar 1961 erschien, und die sich als großer Fehlschlag herausstellte, trübte die Aufbruchstimmung in der Certo KG gehörig. Wenige Monate später wurde der Sunnyboy Armin von der Gönna auch von der Last befreit, in die unmenschlich kapitalistische Mittelmeerregion reisen zu müssen. Während das Urlauberschiff "Völkerfreundschaft" nun allenfalls noch im sozialistischen Inselparadies Kuba vor Anker gehen konnte, brach für Certo durch den Mauerbau der bis dahin bedeutende Westexport ein. In der Folgezeit wurde die Firma durch die immer stärker werdende staatliche Lenkung zum Hersteller einfacher Plastikkameras degradiert. Und mit dem Machtantritt Honeckers Anfang der 70er Jahre zeigte sich, daß sich die schlimmsten "Befürchtungen, daß die staatliche Beteiligung zu einer Fessel für die persönliche Entwicklung werden könnte" nun vollständig bewahrheiten sollten. Die Gebrüder von der Gönna wurden 1972 enteignet und zu jederzeit auswechselbaren Angestellten ihrer eigenen Firma gemacht.
Der Entfernungsmesser Certos
Da die CERTO-phot – eigentlich ziemlich atypisch für eine Boxkamera – mit einer Entferungseinstellung versehen worden war, stellte das Certo Werk einen einfachen Entfernungsmesser namens Certos für sie zu Verfügung. Der wurde freilich auch gern für die Verwendung an anderen Kameras erworben.
Die CERTO-matic
Noch einen Schritt weiter ging das Certo Kamerawerk Dresden, als es zur Frühjahrsmesse 1960 die CERTO-matic vorstellte – eine um einen Belichtungsmesser erweiterte CERTO-phot [Vgl. Fotofalter 4/1960, S. 119.]. Genau genommen handelte es sich sogar um eine Belichtungshalbautomatik, denn der Belichtungsmesser war mit der Blendeneinstellung gekuppelt und die Blende brauchte nur so lange verstellt werden, bis der Zeiger oben auf der Deckkappe auf eine Indikatormarke einspielte.
Es muß freilich dazugesagt werden, daß bei einer einzigen Verschlußzeit von einer 1/50 Sekunde lediglich drei Blendenwerte 8, 11 und 16 zur Verfügung standen. Angesichts dieses geradezu winzigen Einstellbereichs war der Aufwand für einen Belichtungsmesser in solch einer simplen Kamera sicherlich weit überzogen. Die CERTO-matic wurde nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Zur Erfolglosigkeit mag auch beigetragen haben, daß sie etwa das Dreifache der CERTO-phot kostete [Vgl. Ebenda].
In die Deckkappe war eine kleine Selen-Zelle und ein Drehspulmeßwerk untergebracht worden. Bild: Benjamin Kotter
Die Certina
Ein letzter Versuch des Certo-Kamerawerkes, die Bauart der Rollfilm-Box aufrechtzuerhalten, wurde mit der auf der Leipziger Herbstmesse 1965 [Vgl. Fotokino Magazin 12/1965, S. 354.] vorgestellten Certina unternommen. Bei ihr ging man zur Kostenersparnis (sowie zur Gewichtsreduktion) auf eine Metall-Kunststoff-Bauweise über, wobei statt des veralteten Bakelits moderne thermoplastisch verformbare sogenannte Spritzmassen Anwendung fanden, die eine extrem kostengünstige Fertigung möglich machten, wenn erst einmal die nötigen Spritzformen angefertigt worden waren.
Doch so gefällig diese modern gestaltete und trotzdem sehr preiswerte Certina auch aussah – die Zeit der Kontaktabzüge vom Rollfilmnegativ war schlicht abgelaufen. Auch in der DDR hielten im Laufe der 70er Jahre sukzessive Laborautomaten für die Schwarzweiß-Verarbeitung Einzug. Außerdem lockte die Kleinbildkamera mit der Möglichkeit, wenigstens ab und zu mal einen Farbumkehrfilm einzulegen. Selbstangefertigte Bildchen auf Auskopierpapier und die dazu nötigen hölzernen Kopierrahmen kamen angesichts dieser Entwicklung nun rasch aus der Mode.
Der letzte Abglanz der einstmals stolzen Exportfirma Certo: Die Certina wurde im Jahre 1969 als "Revue Junior" von Foto Quelle vertrieben. Nicht daß es für dieses Marktsegment keine westdeutschen Hersteller gegeben hätte, aber der harte Preiskampf hatte hier Ende der 60er Jahre bereits zu einer deutlichen Ausdünnung geführt. Was nicht Spitzentechnik war, das mußte nun möglichst billig sein, um beispielsweise gegenüber Konkurrenten wie Porst oder Neckermann bestehen zu können. Während der westdeutsche Kamerabau in die Bedeutungslosigkeit rutschte, wurde derjenige der DDR sukzessive zum Lieferanten für die Versandhäuser und Warenhausketten in der Bundesrepublik. Die DDR entwickelte sich immer mehr zum Billiglohnland mitten in Europa und brachte in immer größerem Umfang hochwertige Konsumgüterprodukte zu Dumpingpreisen auf westeuropäische Märkte, um damit der eignen Volkswirtschaft die frei konvertierbaren Währungen zu verschaffen.
Die Amateure kauften sich jetzt lieber eine Kleinbildkamera und gaben den belichteten Film in die Obhut des "Dienstleistungskombinates". Es begann die Ära der mannigfaltigen 35 mm Sucherkameras, die in unterschiedlichen Ausstattungsniveaus bis zum Ende der DDR in sehr hohen Stückzahlen ausgestoßen wurden. Die aus der Zwischenkriegszeit stammende "Karat-Kassette" war dabei schon Ende der 50er für die Penti wiederbelebt worden. Als SL (= Schnellade-) Kassette erlebte sie seit nun in den 70er Jahren einen zweiten Frühling. Manche dieser unzähligen auf diesen Kassettenfilm ausgelegten Kleinbildkameras waren dabei derart simpel konstruiert, daß man sie ohne Weiteres ebenfalls als Boxkameras bezeichnen könnte.
Im oben wiedergegebenen Artikel vom Januar 1961 wurde auch die Behauptung aufgestellt: "Keiner der anderen Komplementäre oder Privatunternehmer befürchtet dabei, daß ihm die Konkurrenz 'in die Karten guckt', zu seinem Nachteil Vorteile für sich herausschlägt". Exakt sechs Jahre später sollte sich zeigen, daß es nicht unbedingt die Konkurrenzbetriebe sein müssen, die einem in die Karten gucken und damit das freie wirtschaften verunmöglichen. Wie der obige Artikel aus der Neuen Zeit vom Januar 1967 wissen läßt, kam zu diesem Zeitpunkt derjenige Prozeß in Gang, an dessen Ende die einstmaligen Wettbewerber Beier, Certo und Pouva zu einem einheitlichen Brei zusammengemischt und zu einem einzigen großen "Sucherkamera-VEB" verarbeitet werden sollten. Das wichtige Stichwort ist dabei "bezirksgeleitete Industrie". Nachdem sich die Privatunternehmer von der Gönna, Werner Beier und Karl Pouva auf eine staatliche Beteiligung eingelassen hatten, war es nun zunehmend die SED Bezirksleitung Dresden, die den Kurs vorgab und bestimmte, was und in welchen Mengen zu produzieren sei. Und für die einstmals so stolze Weltfirma Certo bedeutete dies, nun in rauen Massen billigste Plasteknipser auf dem Fertigungsniveau von Kinderspielzeug auszustoßen [Bild unten: Žiga Četrtič].
Marco Kröger
letzte Änderung: 16. April 2025
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