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Phototechnik aus Jena, Dresden und Görlitz
Meyer-Optik Görlitz 1960er
1. Aufbruch aus einer Krise
Die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts waren für die traditionsreiche Fertigungsstätte Meyer-Optik in Görlitz eine Epoche der großen Modernisierung. Einmal natürlich im Hinblick auf die Vielzahl an neuen Produkten, die eine Zeit lang in einem halbjährigen Rhythmus herausgebracht wurden. Mit Hubert Ulbrich hatte ein Generationswechsel im Bereich der Objektivkonstruktion stattgefunden, dem viele dieser Neuschöpfungen zu verdanken waren. Schließlich ist der Konstrukteur für eine Objektivbauanstalt in etwa das, was der Emulsionär für eine Filmfabrik ist: Mit seiner Expertise steht oder fällt des Renommee und die Marktposition seiner Firma.
Diese Aufnahmen von Heinz Woost aus den frühen 60er Jahren vermitteln einen noch eher betulichen Eindruck von der Linsenfertigung und der Objektivmontage im Feinoptischen Werk Görlitz. [Deutsche Fotothek Datensätze Nr. 71597156 und 71597158]
Es soll aber an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß der Volkseigene Betrieb Feinoptisches Werk Görlitz (FOG) gegen Ende der 50er Jahre zunächst in eine ziemlich tiefe Krise geraten war. Die noch auf die Zwischenkriegszeit bzw. die unmittelbare Nachkriegszeit zurückgehenden Trioplane, Telemegore, Primotare und Primoplane hatten massiv an Konkurrenzfähigkeit verloren. In der Bundesrepublik hatten Firmen wie Schneider, Enna, Schacht, Rodenstock usw. nachgezogen und sie dominierten in den westlichen Ländern nicht nur zunehmend den Sektor der Wechselobjektive, sondern vom dortigen Handel wurden sogar in der DDR hergestellte Exaktas und Prakticas mit von westdeutschen Anbietern zugelieferten Normalobjektiven ausgestattet. Das war eine alarmierende Entwicklung.
Der obige Ausschnitt aus einem Artikel im SED-Parteiblatt "Neues Deutschland" vom April 1963 läßt durchblicken, wie sich diese Situation bei Meyer in Görlitz zu Beginn der 60er Jahre zugespitzt hatte. Bei einer genaueren Untersuchung erwies sich, daß sechs von elf Objektiven keine Weltmarktfähigkeit mehr hatten. Folge war eine einbrechende "Devisenrentabilität", das heißt der Betrieb konnte die bereits eingeplante harte Währung nicht erwirtschaften, weil die Erzeugnisse im Westen unverkäuflich waren. Damit geriet der VEB FOG Anfang der 60er Jahre unter Beobachtung der Partei und des ZK.
Typisch für die DDR: Über diese mißliche Lage durfte erst öffentlich gesprochen werden, als man bereits den Ausweg präsentieren konnte. Bei dem erwähnten "Fernobjektiv mit Weltspitzencharakter" handelte es sich um das spätere Orestegor 4/200 mm, das auf der kommenden Herbstmesse 1963 präsentiert werden wird. Auch das Domiplan 2,8/50 mm wird dort herausgebracht werden. Das Einsteigerobjektiv war damals das einzige Triplet des Weltmarktes mit automatischer Abblendeinrichtung. Deshalb erhielt es von der DDR-Warenprüfstelle das begehrte Gütezeichen Q, das die Produkte als Spitzengeräte des Weltmarktes kennzeichnete. Auch das Retrofokus-Weitwinkel Lydith 3,5/30 mm erhielt das begehrte "Q". Damit war der Anteil dieses Gütezeichens mit einem Schlage von unter 50 auf 66 Prozent gestiegen.
Diese Aufnahmen wurden von Heinz Woost anläßlich des Produktionsstarts des neuen Teleobjektivs Orestegor 4/200 angefertigt, das als großer "Hoffnungsträger" für das Werk mit einer intensiven Pressekampagne begleitet wurde. Nach Aussagen von Zeitzeugen soll es sich bei dem Mann oben rechts um Hubert Ulbrich handeln, der dieses Objektiv so wie viele andere aus dieser Zeit konstruiert hat. Der Mann auf beiden Bildern jeweils links sei Wolfgang Krause, der für die Springblenden-Automatiken der Görlitzer Objektive verantwortlich zeichnete. Mit Hubert Ulbrich haben wir es immerhin mit einem der erfolgreichsten Objektivkonstrukteure der Geschichte zu tun, wenn man allein die schieren Mengen und die lange Produktionsdauer seiner Objektive zum Maßstab nimmt. (Mein Dank gilt Frau Schönfelder, Herrn Olbrich und Gerolf Schwarz für die Klärung dieser "Personalfragen") [Bilder: Deutsche Fotothek, Datensatz 71597151 und 71597152].
In den kommenden Jahren wurden in rascher Folge etliche weitere Neuerscheinungen verwirklicht, die in dieser oder einer leicht abgewandelten Form teils für Jahrzehnte im Programm bleiben sollten. Mit dem Oreston 1,8/50 konnte ein zeitgemäßes Normalobjektiv geschaffen werden, das angesichts der bevorstehenden Fließbandmontage der Praktica-Reihe in den kommenden Jahren wirklich eine wichtige Rolle spielen wird. Wenn nun in Dresden mit dem Anlaufen des zweiten Fließbandes zum Jahresende 1965 alle 90 Sekunden eine Praktica vom Band lief, dann mußte in den Objektivbauanstalten in Jena (bzw. Saalfeld) und Görlitz auch alle 90 Sekunden ein Normalobjektiv fertiggestellt werden [Vgl. In drei Minuten zwei Kameras; in: Fotokino Magazin 1/1966, S. 2].
Auch der Bereich der Zusatzobjektive wurde mit einigen bemerkenswerten Neukonstruktionen aufgewertet. Als ungewöhnlich lichtstark angesichts des großen Bildwinkels muß für die damalige Zeit das neue Retrofokus-Weitwinkel Orestegon 2,8/29 mm angesehen werden. Und das Orestor 2,8/100 mm galt als das kompakteste Teleobjektiv dieser Brennweite. Dabei konnte neben Fortschritten in der optischen Konstruktion auch die mechanische Auslegung der Objektive stark verbessert werden. Die Einführung der Automatischen Druckblende bei diesen Normal- und Zusatzobjektiven vereinfachte die Handhabung immens und erhöhte zudem die Einstellsicherheit bei der Fokussierung.
Selbstverständlich mußte auch die Fertigung mit diesem Niveau schritthalten. Auch hier hatte es seit den späten 50er Jahren sukzessive Modernisierungen gegeben. In einem mehrseitigen Bericht über die Meyer-Objektivfertigung in der „Fotografie“ aus dem Frühjahr 1961 sieht man beispielsweise moderne Revolver-Drehautomaten [Vgl. Kaufmann, Siegfried: So entstehen Objektive von Weltniveau; in: Fotografie 4/1961, S150ff.]. Andererseits muten hier viele Arbeitsschritte noch ziemlich kleinteilig und manufakturell an. Weil im Objektivbau viel Handarbeit dominiert, war das Feinoptische Werk Görlitz im Jahre 1963 bereits auf 900 Arbeitskräfte angewachsen [Vgl. Ulbrich, Hubert: Neue Objektive aus Görlitz; in: Fotografie 9/63, S. 350.]
Wie es zu Beginn der 60er Jahre um Meyer-Optik tatsächlich bestellt war, das kann man zwischen den Zeilen aus einem Artikel mit dem vielsagenden Titel "Der lange Arm von Pentacon" herauslesen, der im September 1966 im Neuen Deutschland erschienen war und der oben ausschnittsweise wiedergegeben ist (voller Text hier). In der DDR gab es keine freie Presse, die mit kritischer Berichterstattung hätte aufwarten können. Man kann daher nur aus einer solchen Erfolgsmeldung indirekt schließen, wie die Situation vor diesem Erfolg gewesen sein mag. In diesem Fall hieß das: Pentacon sah sich Mitte der 60er Jahre gezwungen, massiv in die Görlitzer Objektivbauanstalt zu investieren. Daß Meyer-Optik nicht so plötzlich mit der bei Pentacon im Jahre 1965 eingeführten Fließband-Fertigung mithalten konnte, das leuchtet ein. Die damaligen Produktionsgebäude des Werkes stammten aus den 1920er Jahren. Erweiterungen waren auf Basis dieser Substanz daher nur sehr begrenzt möglich. Man erfährt aber auch, daß die Probleme von prinzipiellerer Natur waren. So waren auch die Produktionstechnologie und deren Organisation den Anforderungen nicht gewachsen. Es wurden daraufhin Fließbandmethoden eingeführt und EDV-Technik zur Anwendung gebracht. Man kann auch herauslesen, daß Spezialmaschinen für die Optik- und Mechanikfertigung aus westlichen Ländern beschafft wurden und der wichtige Exportbetrieb Pentacon die dafür nötigen Geldmittel beschafft hat. Interessant für uns ist auch die offizielle Bestätigung, daß die um 1960 noch gefertigten 35 verschiedenen Objektivtypen auf nur noch 15 eingedampft wurden, die ihrerseits auf möglichst rationelle Fertigung ausgelegt wurden.
Ein Beispiel für die besagten Investition in den Maschinenpark gibt uns der obige Artikel im "ND" vom August 1966. Der Autor Siegfried Ulbrich war der Leiter des "Büros für Neue Technik" im VEB FOG. "VK" steht hier nicht für "Vergaserkraftstoff", sondern für "Volkskorrespondent", also jemand ohne journalistische Ausbildung, der die Erfolgsmeldungen dennoch so schrieb, daß sie das ND ohne Nachbearbeitung drucken konnte. Ob er mit Hubert Ulbrich verwandt war, ist nicht bekannt.
Wir wissen nun also aus originalen, zeitgenössischen Veröffentlichungen, daß die Modernisierung und Kapazitätserweiterung in Görlitz damals nicht aus eigener Kraft gestemmt wurden, sondern daß es der Dresdner Kamerabau-Großbetrieb war, der massiv in das Feinoptische Werk investierte. Pentacon brauchte nach der immensen Kapazitätserweiterung, nach der zunächst alle 90 und nach Eröffnung des zweiten Fließbandes alle 72 Sekunden eine Praktica fertiggestellt wurde, bis dahin nicht vorstellbare Mengen an Normalobjektiven, um diese Kameragehäuse zu komplettieren.
Wir wissen heute, daß dieses Engagement Dresdens in Görlitz den Auftakt dafür bildete, der dann im Jahre 1968 in die Bildung des Kombinates VEB PENTACON mündete. Das Feinoptische Werk Görlitz wurde nun als bloßer Teilbetrieb in dieses Kombinat eingegliedert. Die Vorgaben kamen nun aus Dresden und für die Kamerabauer hatten die nötigen Stückzahlen oberste Priorität. Angesichts der bevorstehenden Einführung einer neuen Praktica-Generation im Herbst 1969 hatte die oben erwähnte Kapazitätserweiterung um 350 Prozent bis 1970 also einen reellen Hintergrund. Außerdem verlangten immer komplexere Steuerungssysteme der Kameras eine sehr spezifische Anpassung der Schnittstellen zu den Wechselobjektiven. Die Zeit der großen Kreativität war damit aber beendet worden. Man stellte bis zum Ende der DDR in Görlitz im Großen und Ganzen das her, was man bis zur Eingliederung in das Kombinat bereits entwickelt hatte!
Mit Gründung des Kombinates Pentacon zum 2. Januar 1968 verlor der Görlitzer Objektivhersteller nach mehr als 70 Jahren seine Selbständigkeit. Wartezeiten und Scheuklappen sollten nun zum Alteisen gehören, wie es die auf derselben Seite der "BZ" veröffentlichten Karikatur zum Planjahr 1968 proklamierte. Wie sich erst Mitte der 80er Jahre erweisen sollte, sorgte diese Unterordnung unter das Dach des Dresdner Kameraherstellers fast zwei Jahrzehnte lang für einen gewissen Schutz davor, durch den Jenaer Konkurrenzbetrieb vereinnahmt und damit noch weiter marginalisiert zu werden.
Trotzdem wurde die Unterordnung in den Kamerabau in Görlitz offenbar nicht so sehr als Übergriff sondern eher als Aufbruch empfunden, weil die Dresdner zuvor massiv in das Feinoptische Werk investiert hatten. Doch auch dieses Kombinat PENTACON Dresden sollte letztlich nur eine begrenzte Lebensdauer haben. Eine letzte große Umstrukturierung in der DDR-Photoindustrie erfolgte, als 1985 das ganze Kombinat wieder zerschlagen und die Teilbetriebe jeweils einzeln dem Kombinat VEB Zeiss Jena unterstellt wurden. Anders als jene von 1968 wurde die Übernahme von 1985 sehr negativ wahrgenommen, was auch mit der nur wenig zimperlich agierenden damaligen Zeiss-Betriebsleitung zu tun hatte. Die Befürchtungen sollten sich bewahrheiten, als ein zuvor aufwendig entwickeltes Görlitzer Zoomobjektiv durch eine vom Kombinat aufgezwungene Zeiss-Konstruktion ersetzt werden mußte.
Doch damals, in den 60er Jahren, entwickelten junge, wissenschaftlich gebildete und experimentierfreudige Konstrukteure neue Herangehensweisen, Verfahren und auf ihnen basierende Gerätschaften. Als Beispiel dafür soll die auf dem Bild weiter oben schon zu sehende PRAKTICA electronic stehen. Sie war die erste Spiegelreflexkamera der Welt mit einem elektronisch gesteuerten Verschluß. Auch wenn diese Innovationen vorerst im Sande verliefen, so waren sie dennoch ein Ausdruck für die damalige Innovationsfreude in der DDR-Photoindustrie. Und zu jener Aufbruchstimmung gehörten eben auch die kombinatseigenen Qualitätsobjektive, die ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als komplette Reihe mit Brennweiten zwischen 29 und 500 mm zur Verfügung standen. Niemals wieder sollte es so viele Neuentwicklungen aus dem Görlitzer Hause geben.
Details am Rande: Schon zur Frühjahrsmesse 1960 hatte man mit dem Domigon 3,5/30 und dem Domigor 4/135 zwei völlig neu entwickelte Zusatzobjektive herausgebracht, die auch beide mit dem Gütezeichen Q versehen wurden. Das Problem war nur, daß diese beiden Optiken speziell für die Zentralverschluß-Reflexkamera Pentina zugeschnitten waren, die im Westen (und im Grunde genommen auch in der DDR) niemand haben wollte. Die fehlende Devisenrentabilität des VEB FOG zu Beginn der 60er Jahre lag also längst nicht nur in der Verantwortung der Görlitzer!
2. Ein Orestor 2,8/200 mm (?)
Bei der Recherche zu den ganzen Objektiven, die Sie auf den nachffolgenden Seiten sehen können, ist mir noch ein Patent aufgefallen, mit dem Hubert Ulbrich seine neue, lichtstarke Teleobjektivreihe abschließen wollte [DD70.183 vom 30. August 1968]. Seinen nach dem Sonnartyp aufgebauten Orestoren 2,8/100 und 2,8/135 wäre mit einem Orestor 2,8/200 mm ein noch längerbrennweitiges Exemplar gefolgt.
Das Außergewöhnliche an diesem Objektiv hätte darin gelegen, daß ausschließlich Flintgläser zum Einsatz kommen sollten (nämlich die Barit-Flinte BaF 4 und BaF 5 sowie die Schwerflinte SF 4 und SF 10). Der Grund dafür ist im Patent genannt: Die üblichen Schwer- und Schwerstkrone mit ihren niedrigen Farbzerstreuungen bei hohen Brechzahlen waren damals mehr als doppelt so teuer als die meisten anderen Gläser. Bei Normal- und Weitwinkelobjektiven mit ihren kleinen Linsen hielt sich dieser Preisunterschied noch in Grenzen. Aber bei lichtstarken Teleobjektiven mit ihren großen Glasmassen sorgten die Materialkosten rasch für eine enorme Preissteigerung. Der Ausweg gelang durch den Einsatz der genannten Barit-Flinte, die bei Brechzahlen über 1,6 Farbzerstreuungen aufweisen, die nahe an denjenigen von Krongläsern lagen.
Ich glaube hier allerdings sogleich den Grund nennen zu können, weshalb dieses Objektiv trotz des sehr günstigen Preis-Leistungs-Verhältnisses doch nicht in die Serienfertigung gelangte. Schaut man sich nämlich den obigen Linsenschnitt an, wird klar, daß der Blendenort so festgelegt war, daß keine automatische Springblende umsetzbar gewesen wäre. Ein Teleobjektiv 2,8/200 mm ohne Blendenautomatik – das hat man offenbar bei Pentacon an der Wende zu den 70er Jahren nicht mehr als sinnvoll erachtet.
Marco Kröger
letzte Änderung: 23. April 2025
Yves Strobelt, Zwickau
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